Freitag, 16. Mai 2014

Einkommensteuer: Keine Änderung des Steuerbescheides zu Lasten des Steuerpflichtigen bei Vorkenntnis des Finanzamtes

Der Steuerpflichtige hatte Bezüge aus einer Aufsichtsratstätigkeit bei einer Volksbank bezogen. Unter Beifügung einer Bescheinigung der Volksbank über die Höhe der tatsächlichen Bezüge deklarierte er allerdings in der Steuererklärung nur einen Teil davon. Das Finanzamt setzte die Steuer auf der Grundlage der Deklaration des Steuerpflichtigen fest. Nach Bestandskraft des Bescheides erfuhr das Finanzamt durch eine Kontrollmitteilung, dass der Steuerpflichtige mehr als deklariert eingenommen hatte und änderte den Bescheid zu seinen Lasten. Nach erfolglosen Einspruch erhob er Klage. Das Finanzgericht (FG) Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 19.07.2013 – 9 K 2541/11 – der Klage stattgegeben.

Vom FG wurde darauf hingewiesen, dass sich die richtige Höhe der Bezüge aus der Akte ergeben habe. Teil der Akte des Finanzamtes wären nicht nur die vom Steuerpflichtigen eingereichten und ausgefüllten amtlichen Vordrucke, sondern auch sämtliche Anlagen, die er mit seiner Steuererklärung dem Finanzamt überlässt. Damit habe der Sachbearbeiter schon zum Zeitpunkt der Verbescheidung positiv Kenntnis von der richtigen Höhe der Bezüge nehmen können. Damit greife § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO, demzufolge Steuerbescheide nachträglich nur geändert werden dürfen, wenn Tatsachen oder Beweismittel, die zu einer höheren Steuer führen, nachträglich bekannt werden. Da hier der Sachbearbeiter aber Kenntnis hatte (hätte nehmen können), lag eine Nachträglichkeit nicht vor.

FG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.07.2013 - 9 K 2541/11 -
Aus den Gründen:

Tenor

1. Der geänderte Einkommensteuerbescheid 2008 vom 31. März 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. Juni 2011 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
4. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch einfache Erklärung abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruchs Sicherheit leisten.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist die Rechtmäßigkeit einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzung zu Ungunsten der Kläger gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO).
Die Kläger sind miteinander verheiratet und wurden im Streitjahr 2008 zusammen zur Einkommensteuer (ESt) veranlagt. Der Kläger ist Landwirt und erzielte im Streitjahr neben Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft sowie aus Vermietung und Verpachtung diverse weitere Einkünfte, vor allem als Mitglied des Aufsichtsrates der X-Bank A (X-Bank) Einnahmen aus selbständiger Arbeit in Höhe von 6.071,28 €.
Im Rahmen ihrer gemeinsamen ESt-Erklärung für das Streitjahr, die der Prozessbevollmächtigte der Kläger fertigte und am 23. November 2009 beim Beklagten einreichte, erklärten die Kläger auf der Anlage S u.a. einen Gewinn  aus der Tätigkeit des Ehemannes als Aufsichtsratsmitglied der X-Bank in Höhe von 3.035 €. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Anlage S (Bl. 4 der ESt-Akten) ergänzend Bezug genommen. Dieser Steuererklärung lagen unstreitig Nachweise bei, in der die X-Bank dem Kläger bescheinigte, im Streitjahr als Mitglied des Aufsichtsrates eine Vergütung in Höhe von insgesamt 6.071,28 € erhalten zu haben (siehe Bl. 44 f. der FG-Akte). Hinsichtlich dieser Einkünfte war weder eine Gewinnermittlung noch eine Anlage EÜR beigefügt.
Der Beklagte führte mit Bescheid vom 18. Dezember 2009 die ESt-Veranlagung durch und berücksichtigte den erklärten Gewinn des Klägers aus seiner Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied als Einkünfte aus selbständiger Arbeit in Höhe von 3.035 €, ohne deren Ermittlung zu erfragen. Dieser Bescheid mit einer ESt-Festsetzung von 5.039 € wurde bestandskräftig.
Aufgrund einer Mitteilung über gesondert und einheitlich festgestellter negativer Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erließ der Beklagte am 17. Januar 2011 einen gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr und setzte darin die ESt auf 4.623 € herab.
Am 18. Januar 2011 ging beim Finanzamt eine Kontrollmitteilung des Zentralen Konzernprüfungsamtes Y ein, worin dem Beklagten mitgeteilt wurde, dass die X-Bank dem Kläger im Streitjahr insgesamt den Betrag von 6.071,28 € zugewendet hatte.
Nach einer entsprechenden Anhörung des Klägers, worin der Beklagte die Absicht mitteilte, diese Einnahmen insgesamt als Einkünfte aus selbständiger Arbeit im Streitjahr  zu erfassen, ließ dieser dem Beklagten über seinen Bevollmächtigten mitteilen, eine Änderung gem. § 173 AO könne nicht erfolgen, weil die Einnahmen dem Finanzamt bekannt gewesen seien. Der Betrag von 6.071 €, den der Beklagte als Gewinn der Besteuerung zugrunde legen wolle, entspreche dem Betrag in den Bescheinigungen der X-Bank, die bereits der Steuererklärung beigefügt gewesen seien. Der Kläger habe nicht die Einnahmen, sondern den Gewinn in Höhe von 3.035 € erklärt, und dabei lediglich vergessen, auf die pauschale Ermittlung der Betriebsausgaben in Höhe von 50 % der Einnahmen hinzuweisen. Aufgrund der mit der Steuererklärung vorgelegten Bankbescheinigung sei es offensichtlich gewesen, dass der erklärte Gewinn nicht den Einnahmen entspreche. Folglich könne die jetzt dem Beklagten vorliegende Kontrollmitteilung nicht zu neuen Tatsachen führen. Hilfsweise bittet der Kläger, die inzwischen ermittelten tatsächlichen Betriebsausgaben in Höhe von 1.006 € zu berücksichtigen.
Der Beklagte erließ am 31. März 2011 einen gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geänderten Steuerbescheid, in dem er Einkünfte aus der Tätigkeit als Aufsichtsrat in Höhe von 5.065 € berücksichtigte und die Einkommensteuer in Höhe von 5.165 € festsetzte.
Hiergegen legte der Prozessbevollmächtigte der Kläger am 14. April 2011 namens der Kläger Einspruch ein und begründete diesen mit den gleichen Argumenten, die er schon im Rahmen der Anhörung vorgetragen hatte.
Mit Einspruchsentscheidung vom 17. Juni 2011 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück.
Mit seiner am 14. Juli 2011 bei Gericht eingegangenen Klage begehrt der Kläger die Aufhebung des letzten Änderungsbescheids, weil nicht ersichtlich sei, wo die neue Tatsache liege, die das Finanzamt annehme. Aufgrund der Bankbescheinigungen, die bereits der Steuererklärung beigelegen hatten, habe das Finanzamt über die Höhe der Einnahmen aus der Aufsichtsratstätigkeit Bescheid gewusst. Der Kläger habe – entgegen der Ansicht des Beklagten – durch das Unterlassen der Vorlage einer Gewinnermittlung gem. § 4 Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) nicht schuldhaft gehandelt. Es entspreche gängiger Arbeitspraxis aller Finanzämter, dass bei geringen Einkünften auf derartige Gewinnermittlungen verzichtet werde. Eben weil im Streitfall ein solcher Fall von geringen Einkünften vorgelegen habe, habe der Beklagte bewusst auf die Vorlage einer Gewinnermittlung verzichtet.
Es könne nicht sein, dass das Finanzamt die der Steuererklärung beigefügten Unterlagen nicht zur Kenntnis nehme. Eine Steuererklärung bestehe nicht nur aus dem amtlichen Vordruck. Vielmehr sei jede Anlage zur Steuererklärung Teil dieser Erklärung. Im Streitfall seien daher die vorgelegten und vom Finanzamt nicht zur Kenntnis genommenen Bankbescheinigungen Teil der Steuererklärung gewesen. Es sei logisch, dass die vollständigen Einnahmen nicht gleichzeitig den Gewinn darstellten, da jede Einkunftsart immer auch Aufwendungen beinhalte. Das Finanzamt sei daher durchaus in der Lage gewesen, zu erkennen, dass zwischen den Einnahmen und dem Gewinn eine Lücke sei in Höhe der Aufwendungen. Daher habe das Finanzamt die Höhe der Einnahmen und die Höhe des Gewinns gekannt. Dieser Aufwand habe nicht lückenlos belegt werden können, da seine Höhe aufgrund der relativ geringen Einkünfte im Schätzungswege ermittelt worden sei. Eine solche Schätzung der Ausgaben in Höhe von 50 % der Einnahmen sei nicht wirtschaftlich unvernünftig.
Das Finanzamt habe die Möglichkeit gehabt, entweder die Einkünfte selbst ordnungsgemäß, ggf. durch eine Schätzung, zu ermitteln, oder aber Rücksprache mit dem Steuerpflichtigen zu halten. Dass dies aus Gründen des „steuerlichen Masseverfahren[s]“  nicht geschehen sei, könne nicht zu Lasten des Steuerbürgers gehen. Eine Änderung aufgrund von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sei daher nicht möglich.

Die Kläger beantragen (sinngemäß),

1. den geänderten Einkommensteuerbescheid 2008 vom 31. März 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. Juni 2011 aufzuheben, und

2. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Der Beklage beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Ansicht, die streitige Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sei rechtmäßig. Entscheidend für die Frage, ob eine neue Tatsache vorliege, sei nicht das Kennenmüssen, sondern die positive Kenntnis der jeweiligen Tatsache. Eine positive Kenntnis liege jedoch im Streitfall nicht vor.
Steuererklärungen seien grundsätzlich nach amtlich vorgeschriebenem Muster abzugeben; ihnen müssten die Unterlagen beigefügt werden, die nach den Steuergesetzen vorzulegen seien. Für die Einkommensbesteuerung ergäben sich die notwendigerweise vorzulegenden Unterlagen aus § 60 Einkommensteuerdurchführungsverordnung (EStDV). Danach sei zwingend eine Gewinnermittlung vorzulegen. Weitere Unterlagen seien entbehrlich. Die vorgelegten Bankbescheinigungen seien daher nicht Bestandteil der streitgegenständlichen Steuererklärung, jedenfalls nicht ohne dass auf sie in den amtlichen Vordrucken verwiesen oder sie ausdrücklich als Anlage zur Steuererklärung bezeichnet würden. Insoweit müsse sich das Finanzamt kein Kennenmüssen zurechnen lassen.
Sowohl hinsichtlich der Höhe der Betriebseinnahmen aus der Aufsichtsratstätigkeit als auch hinsichtlich der Betriebsausgaben liege daher im Streitfall eine neue Tatsache vor. Dem Finanzamt sei lediglich die Höhe des in der Anlage S erklärten Gewinns bekannt gewesen.
In jedem Fall sei dem Finanzamt nachträglich bekannt geworden, dass die Betriebseinnahmen in erheblichem Umfang um Beträge gekürzt worden seien, die tatsächlich gar nicht angefallen seien. Zwar hätte das Finanzamt bei Kenntnis der Betriebseinnahmen erkennen können, in welcher Höhe diese um Betriebsausgaben gekürzt worden seien, Die Tatsache, dass Betriebsausgaben aber in der dreifachen Höhe des tatsächlich angefallenen Betrags abgezogen worden seien, hätte sich hieraus aber nicht ergeben.
Die Berichterstatterin hat die Sach- und Rechtslage am 6. Februar 2013 mit den Beteiligten ausführlich erörtert. In diesem Termin haben sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem. § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) einverstanden erklärt. Auf die Niederschrift über den Erörterungstermin wird ergänzend Bezug genommen.
Der Sachverhalt ergibt sich aus den Schriftsätzen der Beteiligten, den vorgelegten Akten des Beklagten sowie aus der Niederschrift über den Erörterungstermin.
Entscheidungsgründe
I. Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung.
II. Die Klage ist begründet.
Der angefochtene Änderungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, weil der Beklagte zur Änderung der bereits bestandskräftigen Einkommensteuerveranlagung nicht befugt war. Die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO liegen im Streitfall nicht vor.  Der Änderungsbescheid ist daher aufzuheben.
1. Gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO können Steuerbescheide geändert werden, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
Tatsache ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestandes sein kann. Dabei kann es sich um Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art handeln (Urteil des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 7. Juli 2004 XI R 10/03, BFHE 206, 303, BStBl II 2004, 911). Bloße Schlussfolgerungen und juristische Subsumtionen hingegen sind keine Tatsachen im Sinne des § 173 AO (BFH-Urteil vom 14. Januar 1998 II R 9/97, BFHE 185, 117, BStBl II 1998, 371).
Die Änderung eines Bescheides ist nach Treu und Glauben ausgeschlossen, wenn dem Finanzamt die nachträglich bekannt gewordene Tatsache bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre. Dies gilt jedoch nur, wenn die Behörde ersichtlichen Unklarheiten oder Zweifelsfragen, die sich bei einer Prüfung der Steuererklärung sowie der eingereichten Unterlagen ohne weiteres hätten aufdrängen müssen, nicht nachgeht. Für die Bestimmung und Begrenzung der Ermittlungspflicht des Finanzamts kommt es wesentlich auf die Angaben des Steuerpflichtigen und insbesondere darauf an, ob damit die steuerlich relevanten Sachverhalte richtig, vollständig und deutlich der Behörde zur Prüfung unterbreitet worden sind. Dabei braucht das Finanzamt Steuererklärungen nicht mit Misstrauen zu begegnen und kann regelmäßig von deren Richtigkeit und Vollständigkeit ausgehen. Versäumen sowohl der Steuerpflichtige als auch das Finanzamt, den Sachverhalt aufzuklären, trifft in der Regel die Verantwortlichkeit den Steuerpflichtigen (ständige Rechtsprechung; vgl. BFH-Urteile vom 10. April 1997 IV R 47/96, BFH/NV 1997, 757, unter 2.a, m.w.N.; und vom 24. Januar 2002 XI R 2/01, BFH/NV 2002, 715, m.w.N.).
2. Im Streitfall kann der Beklagte den Änderungsbescheid nicht damit begründen, ihm sei die Höhe der Betriebseinnahmen erst nachträglich bekannt geworden. Zwar gehören die tatsächlich erzielten Betriebseinnahmen zu den maßgeblichen Tatsachen i.S.d. § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO, die zu einer höheren Steuer führen. Dem Finanzamt ist die Höhe der Betriebseinnahmen aber nicht nachträglich bekannt geworden, denn aufgrund der Bescheinigungen der X-Bank, die bereits der Steuererklärung beigefügt waren, kannte das Finanzamt die Höhe der Einnahmen aus der Aufsichtsratstätigkeit des Klägers von 6.071 € (Betriebseinnahmen). Damit war dem Finanzamt zum Zeitpunkt, als es den Einkommensteueränderungsbescheid am 31. März 2011 erließ, auf den es für die Beurteilung des nachträglichen Bekanntwerdens ankommt (vgl. BFH-Urteil vom 12. Januar 1989 IV R 8/88, BFHE 156, 4, BStBl II 1989, 438), diese Höhe der tatsächlichen Einnahmen bekannt.
a) Entgegen der Ansicht des Beklagten kommt es im Streitfall nicht darauf an, ob der tätig gewordene Sachbearbeiter positiv Kenntnis von der Höhe der erklärten und tatsächlich erzielten Einnahmen genommen hat. Es kann daher dahinstehen, ob er die der Erklärung beigefügten Bescheinigungen über die Höhe der Betriebseinnahmen überhaupt zur Kenntnis genommen hat. Nach der Rechtsprechung des BFH ist dem Finanzamt grundsätzlich das bekannt, was sich aus den bei ihr geführten Akten ergibt, ohne dass es auf die individuelle Kenntnis des Bearbeiters ankommt (BFH-Urteile vom 13. Juni 2012 VI R 85/10, BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5, BFH/NV 2012, 2035; und vom 28. April 1998 IX R 49/96, BFHE 185, 370, BStBl II 1998, 458; jeweils m. w. N.). Zu den Akten gehören alle Schriftstücke, die bei der Dienststelle vorliegen oder sie im Dienstgang erreichen. Ist dem Bearbeiter der zuständigen Dienststelle im Zeitpunkt der Veranlagung der Inhalt der Akten nach diesen Grundsätzen bekannt, so können die hier aufgeführten Tatsachen nicht mehr nachträglich bekannt werden und damit auch nicht mehr Grundlage für die Änderung eines bestandskräftigen Bescheids gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO sein (BFH-Urteil vom 13. Juni 2012 VI R 85/10, BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5, BFH/NV 2012, 2035, unter Verweis auf die BFH-Urteile vom 20. Juni 1985 IV R 114/82, BFHE 143, 520, BStBl II 1985, 492; vom 5. November 1970 V R 71/67, BFHE 101, 156, BStBl II 1971, 220). Die der Steuererklärung beigefügten Bescheinigungen der X-Bank waren damit zum Zeitpunkt der Veranlagung am 18. Dezember 2009 Bestandteil der Akten, auch dann, wenn sie nach Erstellen des Erstbescheids wieder an die Kläger zurückgesandt worden sind. Als Aktenbestandteil war die Höhe der Betriebseinnahmen dem Finanzamt bekannt, unabhängig von der individuellen Kenntnis des Bearbeiters.
Nur für den Fall, dass sich eine Tatsache oder ein Beweismittel nicht aus den Akten ergibt, kommt es auf die Kenntnis derjenigen Person oder Stelle innerhalb der Finanzbehörde an, die für die Bearbeitung des Streitfalls organisationsmäßig berufen war (BFH-Urteil vom 28. April 1998 IX R 49/96, BFHE 185, 370, BStBl II 1998, 458). Die Höhe der Betriebseinnahmen konnte dem Beklagten daher nicht nachträglich bekannt werden.
b) Unbeachtlich in diesem Zusammenhang ist, dass diese Tatsache dem Beklagten nicht auf einem amtlichen Vordruck, sondern lediglich formlos durch Vorlage der Bescheinigungen der X-Bank mitgeteilt worden ist. Auch formlose Anlagen oder Bescheinigungen sind Bestandteil der Akten, nicht nur der amtliche Vordruck. Das Finanzamt hat grundsätzlich alle Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, die der Kläger ihm mitteilt, gleichgültig, ob sie auf einem amtlichen Formular oder formlos mitgeteilt werden. Jedenfalls kann sich das Finanzamt nicht darauf berufen, dass eine Tatsache, die der Kläger ihm nicht auf einem amtlichen Vordruck mitgeteilt hat, ihm gar nicht zur Kenntnis gelangt ist. Der Steuerpflichtige muss daher nicht zwingend in den amtlichen Vordrucken auf die formlose Anlage verweisen oder sie dort als Anlage bezeichnen bzw. auf sie in sonstiger Weise Bezug nehmen. Es genügt, dass sie – wie im Streitfall – der Steuererklärung beigefügt ist.
3. Dem Beklagten ist darin zuzustimmen, dass auch die vom Kläger im Streitjahr tatsächlich aufgewendeten Betriebsausgaben zu den maßgeblichen Tatsachen i.S.d. § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO gehören. Diese Tatsache ist dem Finanzamt zwar nachträglich bekannt geworden. Der Änderungsbescheid ist gleichwohl rechtswidrig, weil eine Änderung aufgrund des nachträglichen Bekanntwerdens dieser Tatsache nach Treu und Glauben ausgeschlossen ist, denn bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht wäre dem Finanzamt diese Tatsache nicht verborgen geblieben.
a) Die Kläger haben in ihrer Steuererklärung auf der Anlage S angegeben, der Gewinn des Ehemannes als Aufsichtsratsmitglied der X-Bank betrage 3.035 €. Aufgrund der zusammen mit der Steuererklärung eingereichten Bescheinigungen der X-Bank war dem Finanzamt auch die Höhe der erzielten Betriebseinnahmen von 6.071 € bekannt. Die Kläger haben dem Finanzamt damit nicht nur die Höhe der Betriebseinnahmen, sondern – aufgrund eines einfachen Rechenvorgangs als Differenz von Betriebseinnahmen und Gewinn – auch die Höhe der Betriebsausgaben von 3.036 € erklärt. Dem Finanzamt war aber nicht bekannt, dass die tatsächlich vom Kläger aufgewendeten Ausgaben deutlich niedriger liegen und der erklärte Gewinn durch eine Schätzung der Betriebsausgaben in Höhe von 50 % der Betriebseinnahmen ermittelt worden ist. Die Höhe der tatsächlichen Betriebsausgaben ist dem Finanzamt erst nach Erlass des Änderungsbescheids und damit nachträglich i.S.d. § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO bekannt geworden.
b) Eine Änderung aufgrund dieser nachträglich bekannt gewordenen Tatsache ist im Streitfall nach Treu und Glauben ausgeschlossen, weil sie dem Finanzamt bei ordnungsgemäßer Erfüllung  seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre.
Wenn die erklärten Betriebsausgaben genau 50 % der Betriebseinnahmen betragen, so ist es zwar rechnerisch möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich, dass diese Betriebsausgaben tatsächlich ermittelt worden sind. In derartigen Fällen sind Zweifel an der Höhe der Betriebsausgaben naheliegend und weitere Ermittlungen grundsätzlich geboten. Wenn es bei dieser Sachlage der Sachbearbeiter unterlässt, weitere Ermittlungen hinsichtlich der Höhe und der Zusammensetzung der Betriebsausgaben anzustellen, so ist eine Änderung des Bescheids aufgrund der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache, dass die Betriebsausgaben niedriger sind als die ursprünglich erklärten 50 % der Einnahmen, nach Treu und Glauben ausgeschlossen. Aufgrund der Kenntnis der Höhe der Betriebseinnahmen von 6.071 € stellt sich die Frage, welche konkreten Ausgaben zu einer Minderung der Einnahmen dergestalt führen, dass ein Gewinn von 3.035 € entsteht. Dieser Frage, die sich angesichts der exakt doppelt so hohen Betriebseinnahmen aufdrängt, ist der Sachbearbeiter nicht nachgegangen. Dies gilt umso mehr, als dem Finanzamt nach Eingang der Kontrollmitteilung im Januar 2011 keine weitergehenden Informationen vorgelegen haben, als zum Zeitpunkt des Erstbescheids im Dezember 2009. Allein die Mitteilung der Höhe der Betriebseinnahmen durch das Zentrale Konzernbetriebsprüfungsamt haben den Beklagten im Januar 2011 veranlasst, tätig zu werden. Hierbei hat der Beklagte sich nicht damit begnügt, weitere Ermittlungen anzustellen, z.B. durch Anfordern einer  Gewinnermittlung, sondern er hat darüber hinaus – ohne weitere Ermittlungen anzustellen – gleich eine Änderungsveranlagung dergestalt in Betracht gezogen, dass ein Gewinn in Höhe der Einnahmen angesetzt wird, und hat die Kläger lediglich zu dieser beabsichtigten Änderung angehört. Daraufhin teilte der Prozessbevollmächtigte der Kläger dann mit Schreiben vom 9. März 2011 die tatsächlichen Betriebsausgaben mit. Eine Gewinnermittlung wurde auch dann nicht vorgelegt. Wenn nun das Finanzamt im Januar 2011 aufgrund der Mitteilung derjenigen Tatsachen, die ihm bereits zum Zeitpunkt der Erstveranlagung im Dezember 2009 bekannt gewesen sind, nämlich der Höhe der Betriebseinnahmen in Höhe von 6.071 €, die Berücksichtigung eines Gewinns in dieser Höhe in Betracht zieht und die Kläger hierzu anhört, so stellt sich die Frage, warum das Finanzamt das gleiche nicht schon im Rahmen der Erstveranlagung im Dezember 2009 getan hat. Die maßgeblichen Umstände waren dem Beklagten zu diesem Zeitpunkt schon bekannt. Jedenfalls haben sich dem Bearbeiter im Dezember 2009 aufgrund dieser Umstände weitere Ermittlungen hinsichtlich der Betriebsausgaben geradezu aufgedrängt.
c) Bei der Wertung etwaiger Aufklärungsversäumnisse des Beklagten kann nicht außer Betracht bleiben, dass die Kläger durch ihr Unterlassen, ihrer Steuererklärung eine Gewinnermittlung beizufügen, die ihnen gem. § 60 Abs. 4 EStDV obliegenden Mitwirkungspflicht verletzt haben. Bei der gebotenen Abwägung der Versäumnisse des Beklagten gegen die fehlende Gewinnermittlung der Kläger fällt die Mitwirkungspflichtverletzung der Kläger aber nur untergeordnet ins Gewicht.
aa) Entgegen der Ansicht des Beklagten waren die Kläger nicht verpflichtet, eine Anlage EÜR abzugeben. Nach § 60 Abs. 4 EStDV in der für das Streitjahr gültigen Fassung ist der Steuererklärung eine Gewinnermittlung „nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck“ beizufügen. Ermittelt der Steuerpflichtige seinen Gewinn gem. § 4 Abs. 3 EStG durch Überschuss der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben, so ist er regelmäßig auch verpflichtet, eine sog. Anlage EÜR einzureichen. Im Streitfall trifft die Kläger eine solche Verpflichtung jedoch nicht, weil die Betriebseinnahmen des Klägers aus seiner Aufsichtsratstätigkeit niedriger als 17.500 € sind. Liegen im Einzelfall die Betriebseinnahmen unter der Grenze von 17.500 €, so beanstandet es die Finanzverwaltung nicht, wenn an Stelle dieses amtlichen Vordrucks eine formlose Gewinnermittlung eingereicht wird (siehe Anleitung zum Vordruck „Einnahmenüberschussrechnung – Anlage EÜR“ als Bestandteil der Verwaltungsvorschrift des Bundes vom 5. September 2008 (Az. IV A 4-S 1451/07/10009, 2008/0487379, BStBl I 2008, 862).
bb) Die Kläger waren aber aufgrund des § 60 Abs. 4 EStDV verpflichtet, eine formlose Gewinnermittlung einzureichen. Diese Mitwirkungspflicht haben die Kläger verletzt. Eine Pflichtverletzung ihres Bevollmächtigten wird den Klägern entsprechend zugerechnet. Aufgrund der Höhe der Betriebseinnahmen von weniger als 10.000 € sowie der Tatsache, dass die Kläger die Höhe der Betriebseinnahmen mitgeteilt haben, wertet der Senat in diesem konkreten Einzelfall die Mitwirkungspflichtverletzung der Kläger gegenüber der Ermittlungspflichtverletzung des Beklagten als untergeordnet. Dem Beklagten sind durch diese Mitwirkungspflichtverletzung keine maßgeblichen Tatsachen unbekannt geblieben. So kannte er neben der Höhe der Einnahmen auch die Höhe des Gewinns und damit auch die erklärten Betriebsausgaben. Ihm war lediglich nicht bekannt, dass die Betriebsausgaben in Höhe von 50 % der Betriebseinnahmen geschätzt worden sind. Diesen Umstand hat der Beklagte aber zum Zeitpunkt des Zugangs der Kontrollmitteilung im Januar 2011 auch noch nicht gewusst. Ohne dieses Wissen hat er sich aber zu diesem Zeitpunkt allein aufgrund der mitgeteilten Einnahmen veranlasst gesehen, den Gewinn mit den erklärten Einnahmen gleichzusetzen. Diesen Umstand wertet der Senat im Rahmen der Abwägung von Ermittlungspflichtverletzung durch den Beklagten und der Mitwirkungspflichtverletzung der Kläger dahingehend, dass die Ermittlungspflichtverletzung im Einzelfall überwiegt.
III. Der Prozessbevollmächtigte der Kläger hat mit Schriftsatz vom 28. Juli 2011 beantragt, die Zuziehung des Bevollmächtigten zum Vorverfahren für notwendig zu erklären. Dem Verfahren lag ein Sachverhalt zugrunde, der in rechtlicher Hinsicht nicht von vornherein als einfach zu beurteilen war. Die Kläger durften sich daher eines Rechtskundigen bedienen, um eine erfolgversprechende Rechtsverfolgung zu erreichen. Der Senat hält hiernach die Zuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).
IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 151, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO). Sinn und Zweck der Vollstreckbarkeit von Kostenentscheidungen ist es, den siegreichen Beteiligten vor kostenmäßiger Benachteiligung für die Dauer des Revisionsverfahrens zu schützen (BFH-Urteil vom 18. Dezember 1970 VI R 248/69, BFHE 101, 478, BStBl II 1971, 426). Davon ausgehend ist § 708 Nr. 10 ZPO "sinngemäß" auf Urteile des Finanzgerichts anwendbar, da auch gegen Urteile des Finanzgerichts nur die Revision statthaft ist (§ 115 FGO). Insoweit sind die Urteile der Finanzgerichte den Berufungsurteilen der Land- und Oberlandesgerichte vergleichbar (siehe auch FG Nürnberg, Urteil vom 1. April 2008 IV 278/2005, EFG 2009, 611; FG München, Urteil vom 20. Januar 2005 3 K 4519/01, EFG 2005, 969; FG Hamburg, Urteil vom 29. November 2004 III 493/01, EFG 2005, 1434). Das Interesse des Beklagten ist unabhängig von der Anwendung der alten oder neuen Version des § 708 Nr. 10 ZPO dadurch gewahrt, dass er aufgrund der sinngemäßen Anwendung des § 711 Satz 1 ZPO durch einfache Erklärung die Vollstreckung abwenden darf. Einer Sicherheitsleistung oder Hinterlegung bedarf es nicht, wenn nicht der Kostengläubiger (Kläger) vor der Vollstreckung Sicherheit leistet. Insoweit folgt der Senat der Auffassung des Finanzgerichts Baden-Württemberg im Urteil vom 26. Februar 1991 4 K 23/90 (EFG 1991, 338), auf das wegen der Begründung im Einzelnen Bezug genommen wird.
V. Die Revision war mangels Vorliegen der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht zuzulassen.


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